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Literaturreise zu Lermontov, Puschkin und Gorkij

 

Wir setzten auch in diesem Jahr unsere Reisen auf den Spuren Puschkins und seiner literarischen Erben fort.

 

Vom 24. August bis zum 3. September sind wir in die südöstliche, zentralrussische Provinz von Pensa und Nizhnij Nowgorod gefahren, tief in die russische Steppe; eine Landschaft von großem Reiz, die selbst dem Fremden ein Gefühl für die Weite des Landes und die Verbundenheit der Menschen mit ihrer Scholle vermittelt.

 

Tarchany

 

        Unser erstes Ziel war Tarchany, das Gut auf dem Michail Lermontov Kindheit und frühe Jugend verbrachte, ca. 230 km südlich von Pensa, der alten Gouvernmentsstadt und mehr als 500 km südöstlich von Moskau entfernt, im südlichen Mordovien, mit einer finno-ugrischen Bevölkerung, in Sprache und Brauchtum durchaus kenntlich.

Auch heute noch wirkt der Museumskomplex wie ein mustergültig geführtes Gut aus Lermontovs Zeit mit adeligem Anspruch. Hauskirche und ein großzügig angelegtes Parkensemble weisen darauf hin. Haus und Hof sind Marodeuren 1918 nicht zum Opfer gefallen. Bauern von Tarchany schützten es. Den Anfechtungen der Zeit ausgesetzt ist alles möglichst authentisch ergänzt und erneuert worden. Ein privater Mäzen tut ein Übriges und gibt fast dem gesamten, früher von den Leibeigenen des Besitzes bewohnten Dorf Arbeit und Perspektive.

Das Gut wirkt weniger wie ein Museum. Im Gegenteil, die Atmosphäre des Hauses, in dem die Großmutter E. Arsenjeva und der heranwachsende Enkel M. Lermontov lebten, versetzt den Betrachter ganz unmittelbar in jene Zeit zurück: das kränkelnde Kind, das mit zwei Jahren noch nicht laufen konnte, unter dem Piano dem Spiel der Mutter lauschend; Hinweise auf seine musikalische Begabung; er spielte Flöte, Geige und Klavier. Das Unterrichtszimmer mit den Lehrbüchern, die er mit den Jungen von Nachbargütern, die seine Großmutter über mehrere Jahre zusammenführte, teilte. Seine mathematische, aber auch Sprachenbegabung. Eine Erziehung, die auch den freien Umgang mit den Dorfkindern und den Einblick in das dürftige Leben der Leibeigenen mit einschloss. Hinweise auf sein ausgeprägtes Gerechtigkeitsgefühl und erste Rebellion gegen die Zustände.

Lermontov kehrte erst im Tode wieder an den Ort der Kindheit und Jugend zurück. Die energische Großmutter setzte die Überführung des ohne den Segen der Kirche, wohl aber in Anwesenheit eines Priesters, nach dem tödlichen Duell mit einem ehemaligen Kameraden im Vorland des Kaukasus begrabenen Enkels durch. Eine eindrucksvolle Grabkapelle im Dorf Tarchany ist Pilgerstätte für die Verehrer Lermontovs, von dem der Literaturkritiker Belinskij sagte, wäre er nicht 27jährig zu Tode gekommen, er hätte das Zeug gehabt, Puschkin nachzufolgen.

In der Stube der Beschließerin las Bernt Hahn aus Lermontovs Roman „Ein Held unserer Zeit“ dazu einige seiner schönsten Gedichte. Danach eine Diskussion über Byrons Einfluss und die deutsche Romantik; der Kaukasus als Abenteuer, aber auch Sehnsuchtsort; Lermontovs Schärfe in der Auseinandersetzung mit dem Staat. Das Gedicht des 22jährigen auf den Tod Puschkins, das ihm eine erste Verbannung in den Süden einbrachte und jene bitteren Verse „Leb wohl, ungewaschenes Russland, Land der Sklaven, Land der Herren...“

Wir waren gern gesehene und wohl auch seltene Gäste aus dem fernen Deutschland. Nach einem filmreifen Adelsball, von den Mitarbeitern des Museums in langen Winterabenden auf professionelles Niveau geführt und einer traditionellen Volksbelustigung bei der wieder in Stand gesetzten Gutsmühle war Tarchany ein erinnerungswürdiger Auftakt dieser Reise.

Pensa

        Auf dem Weg zu unserem nächsten Literaturort, Puschkins Gut Boldino gelegen, hielt die Stadt den Versprechungen unserer dortigen Gastgeber nicht ganz stand. „Klein Paris“, ein Euphemismus, dem bekannten Literaturkritiker W. Belinskij zugeschrieben. Selbst aus der Gegend stammend, auf dem Knabengymnasium in Pensa erzogen, zeitweilig dort auch Lehrer, dürfte er sich wohl selber Mut zugesprochen haben. Damals wie heute ist die Stadt eher Inbegriff russischer Provinzialität und steht für die Probleme an der Peripherie des großen Landes. Der bekannte Schriftsteller und Sozialkritiker Saltykov-Schtschedrin, einige Zeit in Pensa stv. Leiter des kommunalen Rechnungshofs, vergeblich gegen die überbordende Korruption bis in die Spitze der Stadt kämpfend, hat dies und die bis ins Groteske reichende Selbstbezogenheit dieser dumpfen und spießigen Provinzgesellschaft in seinen Gouvernmentsskizzen festgehalten Der Fremde von heute sieht hinter der Fassade der in Russland insgesamt sichtbaren, ungeordneten Bausucht doch deutlich die wirtschaftlichen und sozialen Probleme. Die Modernisierung der sowjetischen Industriestrukturen ist bisher nicht wirklich bewältigt. Es wird über die Gefahren von nur 25 km jenseits der Stadt gelagerten biologischen Waffen und einer dazugehörigen Biowaffenfabrik offen geklagt.

Dennoch auch in Pensa bleibende Eindrücke: das Meyerhold Haus; ein ungewöhnliches Holzhaus-Ensemble ganz im altrussischen Stil. Trotz des Stalinschen Verdikts und des grausamen Endes dieses für das 20. Jahrhundert maßgeblichen Giganten eines modernen Theaters, hat dies Haus durch Zufall unsere Zeit erreicht. Im privaten Teil sehr bürgerlich deutsch. Der Vater ein aus Deutschland eingewanderter Weinhändler, die Mutter Russlanddeutsche. Der Versuch, sich in die neue Umgebung und ihre Kultur einzuschreiben, ist deutlich sichtbar. Er selbst hieß eigentlich Karl Kasimir, ließ sich aber mit 21 Jahren orthodox auf den Namen Vsevolod taufen. Herausragend die Sammlung von Theatermaterialien aus der Zeit der sowjetischen Theater Avantgarde: Kostüme, Requisiten, Konstruktionen, Bilder, Skizzen und Aufzeichnungen. Vieles ist den überlebenden Nachkommen zu verdanken. Heute ist in dem Haus auch eine Studiobühne untergebracht.

Festzuhalten auch der Besuch im Literaturmuseum, dem ehemaligen kaiserlichen Knabengymnasium mit seiner Fülle an Materialien zu Belinskij, Saltykov-Schtschedrin, Ljeskov, Majakovskij.

Noch eine Entdeckung: das Museum eines Gemäldes. Dargestellt sind zwei Enkelinnen von Puschkins Frau aus ihrer zweiten Ehe mit P. Lanskoj: Lizenka und Natascha Arapov, gemalt von I. Makarov, dem wir auch bedeutende Portraits von Natalia Puschkina und der jüngsten Tochter des Dichters Natalia, spätere Gräfin von Merenberg, verdanken. Lizenka emigrierte nicht. Sie starb in Armut 1953 in Pensa.

 

Boldino

        3 Stunden Fahrt von Pensa nach Boldino im südöstlichen Teil des Gebiets Nizhnij Nowgorod.

Für jeden Puschkin Kenner ein Traumziel. Hier schrieb der Dichter während dreier, zum Teil unfreiwillig verlängerter Reisen den Hauptteil seines lyrischen und Prosawerks; insbesondere im „Herbst von Boldino“ 1831. War es der genius loci, der ihn inspirierte?

Uns enttäuschte der Ort. Dorf und Gut verschwinden hinter überdimensionierten Betonklötzen eines Kulturhauses und einer Hotelanlage. Es hat den Anschein, als hätte sich hier eine Baumafia im Verbund mit der örtlichen Nomenklatur ausgetobt. Eine ins Groteske gesteigerte Unfähigkeit, die Geschichte und die Atmosphäre des Ortes zu würdigen.

Das Gut und die ausgedehnten Park- und Gartenlagen zeigen, was sie immer waren, von den Besitzern nicht ständig bewohnt und gepflegt.

Puschkin dürfte hier gefunden haben, was seine schöpferischen Impulse bewegte, Ungestörtheit von der städtischen Betriebsamkeit und Flucht in die Phantasie angesichts der Finanzprobleme, deretwegen er nach Boldino gekommen war. Er stand vor der Heirat mit Natalia Gontscharova, sodass nicht einmal Olga Kalaschnikova, die Leibeigene aus Michajlovskoje, die er nach Boldino geschickt hatte, wo sie Puschkins erstes Kind, den früh verstorbenen Sohn Timofej zur Welt brachte, Ablenkung bedeutete.

Als „unser Boldino“ erwies sich das wenige Kilometer entfernte Nebengut Lvovka.

Lvovka

        Ein einfaches, elegantes Herrenhaus, von Puschkins Frau gestaltet, später nach diversen Teilungen Besitz des ältesten Sohnes Alexander. Die Innenräume im Stil der „ Erzählungen Belkins“ eingerichtet. Reste des Parks erkennbar. Die Holzkirche wartet auf bessere Zeiten. Das wieder hergerichtete Schulhaus gibt einen guten Eindruck davon, was umsichtige Besitzer an existentiellen Lebensgrundlagen für die Jugend auch in entlegensten Gegenden leisten konnten. Außer drei kleinen Häusern, in denen Städter alternative Lebensformen probieren, hat die Natur das Dorf wieder übernommen.

Wir saßen auf der Veranda des Herrenhauses. Bernt Hahn las die letzten Kapitel des Onegin. Wir diskutierten über den Text und das Bild der Epoche. Berührend die Hüterinnen des Hauses, die zuhörten und ohne des Deutschen mächtig zu sein, die oneginschen Strophen erkannten, von Rhythmus und Reim bewegt. Sie schienen geehrt, dass Puschkin auf andere Weise zurückgekehrt war.

Divejevo

        Von Boldino auf halben Weg nach dem 200 km entfernten Nizhnij Nowgorod. Ein Ort, an dem man nicht vorbeikommt ohne zu halten, wenn man fragende Blicke vermeiden will. Nach dem Volksglauben neben dem Ort der iberischen/georgischen Marienikone, dem Berg Athos und dem Kiever Höhlenkloster die vierte irdische Heimstatt der Mutter Gottes.

Eine späte Klosteranlage aus dem 18. Jahrh., umgeben allerdings von zahlreichen Heil spendenden Quellen, die darauf verweisen, dass der Ort schon in Vorzeiten als geheiligt galt. Der Eremit Serafim Sarovskij, der dem Kloster eng verbunden war, steigerte die Bedeutung des Ortes noch mehr. Er zählt zu den bedeutendsten spirituellen Persönlichkeiten des 19. Jahrh. dessen Rat viele suchten. Ein weit verbreitetes Phänomen, das wir u.a. von Tolstoj und Dostojevskij und vielen anderen Intellektuellen aber auch den Spitzen von Staat und einer auf der Suche nach Selbstfindung befindlichen Gesellschaft kennen. Vor der Revolution lebten dort über 1‘500 Nonnen. Heute bewegen sich große Pilgerscharen auf dem Gelände. Gottesdienste finden ununterbrochen Tag und Nacht statt. Die Gesänge der Nonnen, die während der Vesper wie ein beständiger silberner Klang über uns den Raum erfüllten, bleiben in Erinnerung. Der 1 km lange Marienweg, den Gläubige betend begehen, ist gesäumt von farbprächtigen Blumen und Gartenlandschaften. Man verlässt das Kloster mit einem Beutel getrockneter Brotstücke, wie sie Serafim seinen Besuchern mit auf den Weg gab.

Wir fuhren auch zu Serafims Quelle. Die Gläubigen steigen ins Wasser und tauchen mit dem ganzen Körper dreimal unter. Wasser nehmen sie als heilkräftig mit.

Murom

        Auf dem Weg nach Nizhnij Nowgorod unsere letzte Station. Auf der langen Fahrt durch die Provinz sehen wir deutliche Zeichen der Landflucht. Unsere Reisebegleiterin berichtet davon, dass im Gebiet jedes Jahr drei Dörfer verschwinden. Bisweilen aber auch Ermutigendes: es ist erster Schultag und neben uns lärmen festlich ausstaffierte Erstklässler, die Mädchen mit prächtigen Schleifen im Haar, die Jungen in schwarzen Anzügen.

Murom ist als östlichste Grenzfestung der Fürstentümer von Wladimir und Suzdal ein Ort, der noch viel vom Charakter dieser mittelalterlichen russischen Städte hat. Am Hochufer der Oka gelegen, umgibt die Stadt ein Kranz alter Klöster und Kirchen. Die letzte Äbtissin von Divejevo fand hier Zuflucht. Die große Zahl der Nonnen bat sie in kleinen Gruppen in der Weite des Landes unterzutauchen und ein unauffälliges Leben zu führen. Wenigen ist das gelungen.

Im Dreifaltigkeitskloster wird Ilja Muromez gezeigt, einer der drei legendären Recken, von denen die altrussischen Kiever Chroniken berichten. Mit 1,75 m war man damals schon ein gefürchteter Kämpfer. In Wirklichkeit liegt sein unversehrter Leichnam im Kiever Höhlenkloster, wo er als Mönch starb.

 

Nizhnij Nowgorod

        Unsere letzte Station. Eine moderne, expandierende Wirtschafts- und Wissenschaftsmetropole von starker, überregionaler Bedeutung. Früher auch ein bedeutendes Handelszentrum mit Messen, wie wir sie aus Frankfurt oder Leipzig kennen. Daran hat die Stadt noch nicht wieder anknüpfen können. Das Messegelände ist Gegenstand verschiedener, misslungener Privatisierungsversuche gewesen. Am Zusammenfluss von Oka und Wolga, sowohl in seinem modernen Teilen wie auch den Klöstern und Kirchen am Hochufer der Flüsse, ein optimistische Zukunftsvisionen bietender Teil Russlands.

Ziel unseres Aufenthalts war Spurensuche von Maxim Gorkij, der hier geboren wurde, seine Jugend verbrachte und nach vielen Wanderungen und langer Emigration sich auch noch einmal niederließ. Wir besuchten seine letzte Wohnung, in der nach seinem Tod 1937 seine zweite Frau weiter zeitweilig lebte. Auf unsere Bitte durften wir uns in Gorkijs Esszimmer niederlassen. Am Esstisch, vor den Tellern und Bestecken der Familie sitzend, las uns Bernt Hahn eine von Gorkijs frühen Dorfgeschichten vor; ein erschreckendes Bild der Rückständigkeit und Brutalität, die zu bekämpfen Gorkij zu seiner literarischen und politischen Lebensaufgabe gemacht hatte. Hinter Bernt Hahn eine lebensgroße Büste Tolstojs, an der Wand ein Portrait Puschkins, das Gorkij in den langen Jahren seines Exils begleitet hatte.

Dies ist das letzte Bild von unserer Literaturreise.

© Fotos:  Brigitte Hofzimmer, Hans Lutz

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